Die männliche Beschneidung – Liegt ihre Wiege in Afrika?
Die Zeitschrift Kunst&Kontext veröffentlichte in Nr 12 vom Dezember 2016 einen Artikel von mir über die Beschneidung von Jungen und jungen Männern, den ich im Folgenden wiedergebe. Die Zeitschrift „Kunst&Kontext – Außereuropäische Kunst und Kultur im Dialog“ ist die Zeitschrift der Vereinigung der Freunde afrikanischer Kultur e.V. ( www.freunde-afrikanischer-kultur.de ) und erscheint zweimal jährlich.
Die männliche Beschneidung – Liegt ihre Wiege in Afrika?
Abb. 1: Beschneidung Christi im Tempel, Italienische Schule, Ölgemälde 17. Jahrhundert
Die rituelle Beschneidung von Jungen im Säuglingsalter oder zu einem späteren Zeitpunkt ist bei uns in Europa seit Hunderten von Jahren ein Thema gesellschaftlicher Diskussionen. Eng verbunden ist die Beschneidung im Bewusstsein der Europäer mit der jüdischen Religion. Für das männliche Mitglied der jüdischen Religionsgemeinschaft, der Sohn einer jüdischen Mutter ist, ist das Beschnitten-Sein eine conditio sine qua non des Bundes mit dem Ewigen. Diese Tradition des Judentums wird auf die Zeit des ägyptischen Asyls zurückgeführt. (Abb.2) Die Ägypter hatten die Beschneidung bereits fest in ihrer Kultur verankert. Sie galt bei ägyptischen Priestern und Kriegern als Elitemerkmal. (Anm.1)
Abb. 2: D. Herrliberger, nach B. Picart, Instrumente der brit mila, Kupferstich 18. Jahrhundert
Im Christentum wurde nach dem Siegeszug der paulinischen Lehre die Beschneidung der Säuglinge von der Taufe abgelöst. Bis in die 1960-er Jahre war aber die Beschneidung Jesu am 1. Januar, acht Tage nach dessen Geburt, noch Feiertag des liturgischen Kalenders. Die zeitliche Abfolge entsprach den Vorschriften, nach denen bei den Juden die brit mila – die Beschneidung – und die Namensgebung durchgeführt werden müssen. Im christlich geprägten Mittelalter entstanden unzählige Kunstwerke von Dürer bis Rembrandt, welche diese Szene, die Beschneidung Jesu, künstlerisch umsetzten (Abb. 1) und später ganz im Sinne der Gegenreformation in überzogener Weise darstellten. (2)
Abb. 3: Le Monde Illustré, Nr. 1019 vom 21. 10. 1876: Fètes du Bairam: La Circoncision en Turquie durant le Ramadan.
Die Kolonisation islamischer Länder und die zunehmende Einwanderung von Muslimen nach Europa rückten auch die Religion des Islam mit seinen Besonderheiten stärker ins öffentliche Bewusstsein. (Abb. 3) Obwohl der Koran die Beschneidung nicht expressis verbis vorschreibt, ist die Zirkumzision des Mannes (nicht: die Beschneidung der Frau!) in der Sunna als religiöse Pflicht empfohlen und ebenso eng auch mit der islamisch-arabischen Kultur verbunden.(3) In der nach-talmudischen Zeit wanderten zunächst viele Juden nach Nordafrika aus, und ab dem 7./8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung war es insbesondere der Islam, der sich zunächst ebenfalls in Nordafrika, in den folgenden Jahrhunderten aber in großen Teilen auch Zentralafrikas ausbreitete. Heute werden ca. 45 % der afrikanischen Bevölkerung dem Islam zugerechnet.
Die Erlebnisberichte von Missionaren christlicher und islamischer Religionen sowie die Forschungen von Generationen von Ethnologen, Archäologen, Medizinern, Anthropologen und Historikern zeigen, dass die Beschneidung fester Bestandteil von Riten in vielen Regionen Afrikas war und ist, und zwar unabhängig von der Ausbreitung der großen monotheistischen Religionen. Gleichwohl ist die Beschneidung nicht bei allen Ethnien gleichermaßen verbreitet. In Nordafrika gab es sie vor der Islamisierung gar nicht, und auch in „Südafrika fehlt sie bei den Hottentotten und Buschmännern: eines der Symptome für den kulturellen Zusammenhang zwischen dem hamitischen Nordafrika und dem Süden.“ (4)
Abb. 4: “Circumcision of the Negros from Labat”, Thomas Astley, Kupferstich 1745
Beschneidung und Initiationsritus
Die Beschneidung ist in der Regel Bestandteil der Initiation und kennzeichnet den Übergang vom Kind zum Erwachsenen, vom Jungen zum Mann, das Loslösen von der Mutter sowie die Hinwendung zum Vater und dessen angestammten Beschäftigungen und Pflichten in der sozialen Gemeinschaft. Hierzu werden die Jungen zumeist – vom Dorf isoliert und entfernt von den Müttern – über einen bestimmten Zeitraum von einigen Wochen bis Monaten an ihre Pflichten als Mann und an bestimmte handwerkliche Fertigkeiten herangeführt. (Abb. 4) In diesem Rahmen findet dann auch die Beschneidung statt – als sozialer, gemeinschaftlich zu vollziehender Akt.
Abb. 5: „Abraham beschneidet Ismael“, G. van der Gouwen nach Gérard Hoet, Kupferstich 1776
Der Sinn der Beschneidung
Die Frage nach der Bedeutung, dem ursprünglichen Sinn der Beschneidung des männlichen Genitalorgans wird in Literatur und Wissenschaft unterschiedlich beantwortet:
- Religion: Die Berufung auf Abrahams Beschneidung in den Büchern Mose (Bereschit bzw. Genesis) steht in Judentum, Christentum und Islam gleichermaßen im Vordergrund. (Abb. 5) Die jeweiligen differenzierteren, ausschmückenden Begründungen reichen vom Opfer- und Elite-Denken („auserwähltes Volk“) über „Zeichen setzen“ bis hin zum Bestrafungsgedanken. Das männliche Genitalorgan spielt hier die Rolle eines Symbols für die aktive oder passive Unterwerfung unter Gott und steht für gemeinschaftliches Blutopfer.
- Gesundheit und Hygiene: Gesundheitliche und medizinisch-prophylaktische Beweggründe (Abb. 6) werden in den ethnologischen Berichten äußerst selten angegeben. (5) Sie haben erst in neuerer Zeit einen hohen Stellenwert erhalten: Das ist ab Mitte des 19. Jahrhundert zunächst in Nordamerika der Fall, wo die Zirkumzision noch bis in die 1970-er Jahre bei Jungen prophylaktisch über Religionsgrenzen hinweg durchgeführt wurde. Der Anteil der beschnittenen Jungen in den USA erreichte zeitweise 90%. In puritanisch-protestantischen Kreisen erhielt die Beschneidung noch einen zusätzlichen moralischen Sinn, nämlich die „Sünde“ der Masturbation zu erschweren. (6)
Abb. 6: „Sciences medicales – circoncision“, Kupferstich Epoche Ludwig XIII.
- Initiationsriten: Der Sinn der Jungen-Beschneidung im Rahmen von Initiationsriten ist ebenfalls nicht einheitlich zu interpretieren. Es existiert eine Vielzahl von höchst interessanten, bunten Schilderungen solcher Riten bei den Völkern Afrikas, Arabiens, Indonesiens und Papua-Neuguineas, Australiens und Nord-, Mittel- und Südamerikas. (Abb. 7) Während des kurzen Zeitraums dieser Schilderungen von einigen hundert Jahren wurden diese Riten jedoch teils fundamental geändert, untereinander vermischt oder sogar aufgegeben. Die Einflüsse der monotheistischen Religionen, der politischen und wirtschaftlichen Kolonisation, Völkerwanderungen und Kriege erschweren die Interpretation alten Kulturgutes und eindeutige Zuordnungen. Im Rahmen der Initiationsriten hat die Beschneidung mit zunehmendem Verlust der ursprünglichen Bedeutung zuweilen den genannten Hygiene-Sinn erhalten. (7)
Abb. 7: “Cérémonie des Peuples de Guinée“, Kupferstich B. Picart 1726
Initiationslager
Allgemein sind die die Initiation begleitenden Zeremonien gekennzeichnet durch striktes Trennen der Initianten von den Müttern und Frauen der Gemeinschaft, Isolation in selbst errichteten Hüttenlagern, gemeinsames Erlernen bestimmter Fähigkeiten und Weitergeben von Traditionen und Rechtssystemen, Tragen zumeist eigens angefertigter Kleidung und Masken. (Abb. 8) Abgerundet werden die Initiationsriten häufig von Tieropfern und ausgelassenen Festen mit Tänzen und Gesängen nach Beendigung der Initiation. (Abb. 9)
Abb. 8: Beschneidungs-/Initiationsmaske, Pende-Kasai (gitenga), D. R. Kongo, eigene Sammlung
Das Einberufen dieser Lager und somit auch der Zeitpunkt der Beschneidungen sind abhängig vom Alter des Initianten, aber auch von gesellschaftlichen Ereignissen wie z. B. dem Tod des Königs oder der Beendigung seiner festgelegten Amtszeit, ferner vom Wohlstand der Familie, von Jahreszeiten, dem Rhythmus der Natur (8 ) oder von festgelegten Zeitspannen, in denen ausreichend Initianten in der Gemeinschaft oder der weiteren Umgebung vorhanden sind. Während wiederum diverse Ethnien (z. B. die Lobi, Birifor und Dagara im Dreiländereck von Burkina Faso, Côte d’Ivoire und Ghana) gar keine Beschneidung am Mann vornehmen, finden bei einigen Volksgruppen Zirkumzisionen ohne gemeinschaftliche Rituale oder im Geheimen statt, wobei die Jungen sich bisweilen selbst beschneiden müssen. Auch über gemeinschaftliche Beschneidungen von Jungen und Mädchen wird berichtet, beispielsweise bei den Nuna in Burkina Faso. (9)
Abb. 9: „Orchestre de Danse des Circoncis Manjas“ (Vergiat 1936)
Beispiel Liberia
Hans Himmelheber, dem es gelungen war, bei drei Geheimbünden der Dan in Liberia Mitglied zu werden, hat 1976 vom 20. Januar bis zum 29. Februar an einem Initiationslager im Dorf Nyor Diaple teilgenommen und darüber ausführlich in dem Buch „Masken und Beschneidung“ berichtet. Im Vorwort heißt es: „Es ist vielen Dan heute bewusst, dass ihr kulturelles Brauchtum rasch dahinschwindet. Schon werden die meisten Knaben in Hospitälern beschnitten, und die Maskengestalten verlieren ihren Einfluss.“ (10)
Tagebuchartig, bis ins kleinste Detail, beschreibt Himmelheber den Initiations- und Beschneidungsritus der Dan (Yakuba). Die verschiedenen Maskenarten der Beschneider, ihrer Helfer und der Beschnittenen werden in ihrer Bedeutung erklärt, zahlreiche Fotografien illustrieren den fast dreiwöchigen Lageraufenthalt. Darüber hinaus gibt es Schilderungen über andere Ethnien Liberias, Sierra Leones und der Elfenbeinküste, deren soziales Leben durch den poro-Geheimbund bestimmt ist. Solche Berichte finden wir bei J. Büttikofer (11) und Olfert Dapper (12), welche übereinstimmend die „porogeprägten“ Ethnien und ihre Initiationsriten beschreiben. Im Rahmen der Initiation wurden zwar ausgedehnte Tätowierungen durchgeführt, die Beschneidung selbst fand jedoch bereits im ersten Lebensjahr statt. (13)
Abb. 10: Beschneidungsmesser, Tschokwe (Angola), eigene Sammlung
Beschneidung als Katalysator der Sexualfunktion?
Der Leipziger Gynäkologe und Anthropologe Hermann Heinrich Ploss liefert eine systematische Zusammenstellung von Schilderungen solcher Riten. Als Resümee beschreibt Ploss die jeweiligen Beschneidungsarten in erster Linie als eine Form der Unterstützung der Mannbarkeitswerdung. „Er“ (der Junge) soll „hiermit fertig und fähig gemacht werden, sich seinen sexuellen Funktionen mit möglichstem Erfolge widmen zu können. Nur wenige Völker (Juden) besorgen diese sexuelle Fertigstellung schon am Neugeborenen.“ (14)
Dem natürlichen Zusammenhang von „Mann-Werdung“ und Erreichen der sexuellen Reife wird durch äußeres Eingreifen, durch Korrektur der Natur nachgeholfen, indem die Vorhaut entfernt wird. Vermeintlich wird somit ein Zustand der dauerhaften Zeugungsfähigkeit hergestellt. Die Vorhaut stellt also ein entbehrliches Organteil dar, welches die Zeugungsfähigkeit behindert. Die verschiedenen Beschneidungsinstrumente, ihre Bezeichnungen (Abb. 10) und die der beschneidenden Personen sind nicht Teil dieses Artikels.
Dokumentation zwischen Dichtung und Wahrheit
Dokumentiert wird die lange Tradition der Beschneidung in Afrika aber nicht nur durch die Niederschriften „jüngerer“ Zeit, worunter ich die letzten 500 Jahre, vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, verstehe. Eine der ältesten Beschreibungen stammt aus einem Reisebericht in dem Buch des bereits erwähnten Niederländers Olfert Dapper über Madagaskar 1660 in seinem Buch „Naukeurighe Beshrijvinghe der Afrikaensche Eylanden“. (15) Schriftliche Zeugnisse finden wir weiter in den alt-jüdischen Schriften oder Herodots Historien, niedergeschrieben vor 2.000 bis 2.500 Jahren (um das vierte bis fünfte Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung), älter noch sind Grabinschriften aus dem Alten Ägypten, so die berühmte Beschneidungsszene im Grab von Ankh-ma-hor (Ende der 6. Dynastie, 2.400 Jahre vor unserer Zeitrechnung) (Abb. 11, 12) und Felsenbilder aus der Sahara und anderen Gegenden Afrikas (vor 3.000 bis 4.000 Jahren).
Abb. 11: Papyrus mit der Grabinschrift von Ankh-ma-hor, neuzeitliche Papyrusdarstellung von „Papyrus Institute“, 3, Nile Avenue, Caire, Egypt, eigene Sammlung
Abb. 12: Grafik Beschneidungsszene am Grab Ankh-ma-hor mit verschiedenen Interpretationen der Beschriftung (Anm. 16)
Felsbilder
Der deutsche Forscher Heinrich Barth kopierte erstmals im Jahre 1850 die Felsbilder der nördlichen Sahara und beschrieb diese. Anfang des 20. Jahrhunderts widmete sich Leo Frobenius diesen Entdeckungen intensiv. In der Berliner Ausstellung „Kunst der Vorzeit“ des Jahres 2016 waren aus seiner Sammlung die Kopien zahlreicher Felsbilder zu sehen. (Abb. 13) Anzumerken ist, dass bisher keines der Bilder, welche auf mehrere Tausend Jahre geschätzt werden, als Beschneidungs- oder Initiations- Szene gedeutet werden konnte. Im südlichen Afrika ist es die Projektgruppe um Tilman Lenssen-Erz, welche die Sammlungen von Pager über die Malereien am Brandberg wissenschaftlich katalogisiert. Und unter diesen 2.000 bis 4.000 Jahre alten Felsbildern sind Motive mit Penisveränderungen – Querstriche oder „Penis-Attachment“ – zu finden, welche auch als Infibulation bezeichnet werden. Nach Lenssen-Erz wird das „Penis-Attachment“ von einzelnen Wissenschaftlern als Zeichen der Beschneidung gedeutet.
Abb. 13: „Kunst der Vorzeit“, Texte zu den Felsbildern der Sammlung Frobenius 2016, Deckblatt
Ein Felsbild, welches aktuell in der Beschneidungshöhle von Songo im Dogon-Gebiet von Mali aufgenommen wurde (Abb. 14) und alle drei Jahre anlässlich der Beschneidung neu bemalt wird, stellt ein traditionelles Ausschmücken der Felswände am Beschneidungsplatz dar. Felsbilder sind hier Bestandteil der Initiation. Sie sind aber auch als Bildersprache ein enzyklopädisches und ein spirituelles Kommunikationsmittel, mit welchem die Traditionen und Gebräuche (17) an die kommenden Generationen weitergegeben werden.
Abb. 14 Beschneidungsplatz mit Höhlen- und Felsmalerei in Songo, Dogon-Gebiet Mali, © Ellen Clark / DanitaDeli ont.com
Die Operation – der Eingriff als Einschnitt
Im Folgenden möchte ich noch auf die Beschneidung als chirurgischen Eingriff eingehen. Die Beschneidung im weiteren Sinne wird wohl zu Recht als die älteste und am meisten verbreitete Operation bezeichnet. (18) Die Beschneidung (circumcisio) besteht streng genommen in der Entfernung der männlichen Vorhaut, des praeputium penis, durch eine Umschneidung der Vorhaut an deren Basis (corona), sodass als Ergebnis einer solchen Beschneidung die Eichel (glans penis) frei liegt. In der Tradition des Islam gilt auch nur diese vollständige Form der Beschneidung als „richtig“, „korrekt“. Das Judentum hat in seiner langen Geschichte die verschiedensten Formen von Abwandlungen dieser Beschneidung propagiert, toleriert oder eben auch abgelehnt. Heute werden in den verschiedenen jüdischen Glaubensrichtungen auch unterschiedliche Formen und verschiedene Rituale praktiziert. Selbst die Ablehnung der Beschneidung, der brit mila, wird propagiert. (19) So ist die Beschneidung auch seit jeher Thema sowohl selbstkritisch-jüdischer als auch antisemitischer Karikaturen. (Abb. 15)
Abb. 15: „Circoncision, par Alfred le Petit“, Karikaturzeitung „La Charge“ Nr. 73 vom 1.12.1889
In den zahlreichen Operationsberichten von Beschneidungen anlässlich von Initiationsriten bei afrikanischen und auch außer-afrikanischen Ethnien finden sich ebenfalls große Unterschiede. Am weitesten verbreitet ist ohne Zweifel auch hier die vollständige Entfernung der Vorhaut (Zirkumzision). Es gibt jedoch Varianten, zu denen Teilentfernungen der Vorhaut oder lediglich Einkerbungen (Inzision) gehören. (20) Weiter sollte noch die Infibulation (Spangen, Piercing) genannt werden. Ferner wird über gleichzeitiges Schlitzen der Harnröhre (Subincision) berichtet.
Abb. 16: Beschneidungsschemel der Kwele (Gabun), eigene Sammlung
Eine wichtige Rolle spielt häufig im Rahmen der Initiation der zu ertragende Schmerz. Betäubungs- oder Narkosemittel werden aus Prinzip oder aus Nichtwissen vermieden. Die Wundheilung erfolgt bisweilen in separaten Lagerabschnitten (Hütten). Blutstillung und Reinigung erfolgen durch pflanzliche Stoffe, heißen Sand und Wasser. Postoperative Verbände (auch Penis-Etuis) aus faserreichem Blattwerk werden als Kompression und somit als zusätzliche Blutstillung angelegt. Die Initianten werden in der Regel von Helfern des Beschneiders fixiert oder müssen freistehend den Schmerz ertragen. Der Beschneider sitzt derweil auf seinem Schemel. (Abb. 16)
Abb. 17: Beschneidungshocker (Fragment) Lengola (D. R. Kongo), eigene Sammlung
Die Beschneider sind in der Regel, aber nicht zwingend extra ausgebildete Operateure, nicht selten gleichzeitig Schmiede oder angesehene Funktionsträger, welche ihre Fertigkeiten und Utensilien (Abb. 17) in der Familie weitergeben. Die entfernte Vorhaut selbst wird nach der Beschneidung verworfen, im Lager vergraben, oder – nicht nur mündlich überlieferter Mythos, sondern auch mehrfach schriftlich dokumentiert – ein Angehöriger verzehrt diese mit Brot, Ei oder Banane (Madagaskar, Hova). (Anm.21,22)
Abb. 18: Textilumhang bogolan der Bamana (Mali, Burkina Faso), auch als Umhang für beschnittene Jungen und Mädchen benutzt
Die Varianten im operativen Vorgehen sind ebenso vielfältig wie die verschiedenen Formen der Zeremonien. (Abb. 18) Zunächst differiert das Beschneidungsalter. Meistens werden die Jungen zwischen dem 10. und dem 20. Lebensjahr beschnitten, zuweilen aber auch als Neugeborene, möglicherweise durch den Einfluss abrahamitischer Religionen. Auch die körperlichen Eingriffe selbst – unabhängig von der eigentlichen Beschneidung – sind im Rahmen der Initiation sehr unterschiedlich. Es werden Eingriffe und Operationen durchgeführt, welche deutliche Verstümmelungen der Genitalorgane bedeuten. Infibulationen hatten möglicherweise in Urzeiten bei den jagenden Völkern eher eine Schutzfunktion und haben hernach einen Schmuckcharakter entwickelt. Wir finden Zahnextraktionen, Haarabschneiden oder auch das Anbringen von Wunden/Narben an anderen Körperstellen (Skarifizierung). (Abb. 19)
Abb. 19: Beschneidungs- und Tätowiermesser der Pende oder Luba (D. R. Kongo), eigene Sammlung
Alter der Genital-Verstümmelung/-Veränderung
Die Frage nach der ältesten Form der Genitalveränderung wird in der Literatur Anfang und Mitte des 20. Jahrhunderts zugunsten der Beschneidung entschieden. Der Einfluss der auf kommenden Tiefenpsychologie auf die Anthropologie ist in den Antworten auf die Frage nach Bedeutung und „Ur-Form“ erkennbar, insbesondere in der Freudschen Seelen-Lehre mit der Urangst des Mannes, der Kastrationsangst und dem Ödipus-Komplex. (23)
Xhosa, Nama (Region Südafrika und Namibia)
Zum Abschluss die Zusammenfassung eines ausführlichen Berichtes von Peter Kolb über eine medizinisch besonders eigenartige Form und chirurgisch sehr aufwendige Art der Genitalverstümmelung im Rahmen der Initiation. Er beschreibt 1719, dass bei Ethnien wie Xhosa und Nama vom „Aufschneider“, dem „Alten Herrn“, der linke Hoden des Initianten über einen Schnitt am Hodensack (Skrotum) entfernt wurde. In die so entstandene Wundhöhle wurde anschließend eine Kugel aus Lehm- und Kräutergemisch (buchu) mit heißem Tierfett („Nierenfett“) eingebracht. Das heiße Fett des fettesten Schafes des Initianten oder seines Vaters wurde ebenfalls auf den Körper des Initianten aufgetragen. (Abb. 20) Der Verschluss der Wunde erfolgte mit einem geschliffenen Vogelbein (als Nadel) und einer Tiersehne als Faden. Die Qual endete im Überurinieren des Beschneiders über den Körper des Initianten (geschildert in „Caput bonae spei hodiernum“). (24) Eine solche einseitige Hodenentfernung (Monorchie) fand auch bei anderen Volksgruppen statt, angeblich unter der Vorstellung, hierdurch die Geburt von Zwillingen zu verhindern.
Abb. 20: Initiationsszene bei den Xhosa oder Nama, Kupferstich 1780, Südafrika, “Cafers or Hottentots assembled for the admissionof their Youth to the state of the Manhood at the Cape of Good Hope.”
Fazit
Die Beschneidung ist zumeist eingebettet in verschiedenste Initiationsriten. Sie weist auf die Bedeutung der sexuellen Funktionen des Mannes hin: Den Erhalt der Gemeinschaft (Fruchtbarkeit) und das Fortführen der männlichen Pflichten (Jünglingsweihe). Die Ursprünge der Beschneidung beim Mann sind nicht genau festzulegen; die Zirkumzision wurde bereits vor den abrahamitischen Religionen praktiziert. Die ältesten bekannten und belegten Zeugnisse stammen aus Afrika und datieren auf das zweite bis vierte Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung.
Text: Franz-Ferdinand Henrich, Chirurg, Proktologe
„Beschneidung bei Jungen – Liegt die Wiege in Afrika?“. Der Artikel basiert auf einem Vortrag auf der Frühjahrstagung der Vereinigung der Freunde afrikanischer Kultur e.V. in Saarbrücken vom 22. bis 24.4.2016.
Anmerkungen
1 Assmann, Jan: Moses der Ägypter, S. Fischer, Frankfurt 2000, S. 225
2 Ketelsen, Thomas: Im Zeichen des Bundes – Graphische Meisterblätter von Dürer bis Rembrandt, Kupferstich-Kabinett der staatl. Kunstsammlungen Dresden 2001, S. 24
3 Toualbi, Noureddine: La circoncison – blessure narccissique ou promotion sociale, Algier 1975, S. 26 ff.
4 Jensen, AD. E.: Beschneidung und Reifezeremonien bei Naturvölkern, Studien zur Kulturkunde, Hrsg. Leo Frobenius, Stuttgart 1933, reprint 1968, S. 71
5 Ploss, H.: Geschichtliches und Ethnologisches über Knabenbeschneidung, in: Deutsches Archiv für Medicin und medicinische Geographie, Band 8, Leipzig 1885, repro. Hildesheim-New York 1971, S. 314
6 Gollaher, David: Das verletzte Geschlecht – Die Geschichte der Beschneidung, Berlin 2002, S.140 ff.
7 Vergiat, A. M.: Les rites secrets des Primitifs de l’Oubangui, Paris 1936, S. 79
8 Leiris, Michel: Rites de circoncision Namchi, in: Journal de la Société des Africanistes Tome IV 1934, S. 64
9 Zwernemann, J.: Ethnologische Afrikaforschung vor 60 Jahren. Bei den Kassena und Nuna in Burkina Faso und Ghana. Mitteilungen aus dem Museum für Völkerkunde Hamburg, 47/2014, S. 244
10 Himmelheber, Hans: Masken und Beschneidung, Zürich 1979, S. 3
11 Büttikofer, J.: Reisebilder aus Liberia, Leiden 1890, Bd. II, S. 304 ff., ausführlich zitiert in: Zeller, Moritz: Die Knabenweihen, Bern 1923, S. 2 ff.
12 Dapper, O.: Beschreibung von Afrika, Amsterdam 1670, S. 413 ff., ausführlich zitiert ebd. S. 4 f.
13 Zeller, Moritz: Die Knabenweihen. Eine psychologisch-ethnologische Studie, Institut der Universität Bern, Bern 1923, S. 3 ff.
14 Ploss, H.: a.a.O., S. 343
15 Mattelaer, Johan J.: Decoration et mutilation, Le livre Timperman, Brüssel 2004, S. 107
16 Ebd., Grafik S. 85 (autorisiert durch den Autor, E-Mail vom 02.05.2016)
17 Lenssen-Erz, Tilman: Prähistorische Felsbilder im südlichen Afrika heute, in: Kunst der Vorzeit – Texte zu den Felsbildern der Sammlung Frobenius, Leo Frobenius-Institut der Goethe-Universität Frankfurt, 2016, S. 81 ff.
18 Bolnick, David et al.: Surgical Guide to Circumcision, Springer-Verlag, London 2012, S. 25 ff.
19 Deusel, Antje-Yael: Mein Bund, den ihr bewahren sollt, Herder, Freiburg 2012, S. 128 f.
20 Jensen, AD. E.: a.a.O., S. 129 ff.
21 Grandidier, A. u. G.: Cérémonies malgaches, L’Anthropologie 1915, Nr. 4-5, S. 347
22 Mattelaer, Johan J.: a.a.O. S. 107
23 Maciejewski, Franz: Psychoanalytisches Archiv und jüdisches Gedächtnis – Freud, Beschneidung und Monotheismus, Wien 2002, S. 226 ff.
24 Zeller, Moritz : a.a.O., S. 34 ff.